Leere Säle in der Session 2023 des Kölner Karneval.

Köln | Halbleere Sitzungen, Säle, in denen das Geschnatter das Bühnenprogramm übertönt, Orte kölscher Andacht wo das Publikum zuhören kann oder Kneipenkarneval mit kernigem Kölsch. Eine Momentaufnahme aus dem Kölner Karneval nach zwei Jahren Pandemie aus einigen Sitzungssälen, die Trends aufzeigen, aber sicher nicht für alle Säle in der Session 2023 gelten.

Leere Säle

Die Menschen kaufen ihre Karten für die Sitzungen später als vor der Pandemie. Das kann sich vielleicht mit der kommenden Session schon wieder ändern, aber das berichten fast alle Karnevalsgesellschaften. Und viele melden in letzter Minute: ausverkauft und das stimmt. Es gibt aber auch leere Säle. Nicht nur etwa auf beiden Emporen im Maritim, sondern auch die hinteren Reihen zeigen deutliche Lücken. Das ist im ersten Moment eigentümlich, denn vor der Pandemie waren selbst die Sitzungen unter der Woche sehr gut nachgefragt. Ob es daran liegt, dass viele Menschen das Vertrauen daran verloren haben, Karten die sie kauften, wirklich einmal einlösen zu können oder gerade beim älteren Publikum noch die Furcht vor Ansteckung mit dem Coronavirus grassiert, dürfte nur schwer bis gar nicht nachvollzogen werden können. Hier wird es sicherlich interessant in der kommenden Session, ob der Trend anhält oder es eine Momentaufnahme dieser Session ist. Dann würde nach einer Phase exponentiellen Wachstums an Karnevalsveranstaltungen vielleicht eine Korrektur einsetzen und die ein oder andere Karnevalsgesellschaft zunächst einmal die Anzahl ihrer Termine überdenken. Probleme stellen zudem bei einigen, vor allem den reinen Männergesellschaften, die Mädchensitzungen dar. Hier ist der Trend, dass die Damengesellschaften deutlich bei den Mädchensitzungen was den Kartenverkauf angeht, vorne liegen. Hier stieg das Angebot an reinen Damengesellschaften kontinuierlich. Frauen scheinen lieber bei den Damengesellschaften auf die Mädchensitzung zu gehen, weil sie damit diese unterstützen. Auch das gilt es im Blick zu behalten.

Bahnhofshalle und Animateure auf der Bühne

Schnatter, schnatter und nochmal schnatter. Gerade die großen Säle gleichen, vor allem wenn sie ausverkauft sind, eher einer Bahnhofshalle wo der Zug ausfiel, als einem Saal, in dem eine Sitzung stattfindet, die wohlinszeniert ein Programm zum Zuhören und eines zum Mooven auf engstem Raum und Schunkeln gleichermaßen bietet. Jetzt stellt sich die Frage, können die Menschen nach zwei Jahren Pandemie nicht mehr einem Bühnenprogramm folgen, zuhören und genießen? Es fing schon vor der Pandemie an, dass die Säle unruhiger wurden. Vor allem Redner kritisierten dies schon lange und äugten genau auf ihren Auftrittstermin. Neu ist, dass schon zu Beginn der Sitzung der Lärm- und Geräuschpegel, noch vor Einnahme des ersten Glases Champagner oder weißen Weines, mit dem eines startenden Helikopters vergleichbar scheint. Wohlwollend könnte die Idee entstehen zu sagen, die Lück haben sich halt nach zwei Jahren so viel zu erzählen… Das dürfte Selbstbetrug sein.

Programmnummern, die sich mit der Gesellschaft selbst oder dem Thema 200 Jahre organisierter Karneval beschäftigen, sind kaum mehr durchführbar und vermittelbar. Selbst mit massiver Intervention von Seiten der Sitzungsleitung, ist der Saal nicht zu beruhigen. Sie gehen unter und werden bis auf die erste Tischreihe vom Publikum weitestgehend ignoriert. Ein Redner sagte report-K, dass er sich nur noch auf das erste Drittel eines Saales konzentriere, weil die weiter hinten sitzen sowieso machen was sie wollen. Die Empfehlung für den Redner so zu agieren kam von einem erfahrenen Sitzungsleiter oder den Kollegen.

Ist es die sinkende Aufmerksamkeitsspanne, die sich hier auch in den Karnevalssälen bemerkbar macht? Ein Forscherteam der Technischen Universität Berlin, des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB), des University College Cork und der Technical University of Denmark (DTU) stellte schon 2019 fest, dass die Zeitspanne, in der die Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit einem Thema widmet, immer kürzer werde. Dies sind Auswirkungen von Push-Nachrichten und vor allem sozialen Medien, die die Forscher anhand der Auswertung von analogen Angeboten oder von Hashtags feststellten.  

Selbst bei Musiknummern wird geredet ohne Unterlass, sich zugeprostet, und ständig werden Selfies gemacht und gepostet. Es ist die Eigeninszenierung, die im Vordergrund steht. Die Jecken an den Tischen schauen gar nicht mehr nach vorne, um zu sehen was auf der Bühne passiert, sie sind sich selbst genug. Unterbrochen werden kann das nur noch wenn die, die auf der Bühne stehen wie Animateure einen deutlich lauteren Impuls zum Mitmachen in den Saal brüllen. „Hände hoch“ oder „Ich will Eure Hände sehen“ funktioniert immer und setzt den Herdentrieb wie eine La Ola Welle durch den Saal bis zu den hintersten Reihen in Gang. Dazu ein schmissig gespielter Song, den alle kennen und mitgrölen können, dann gehört denen auf der Bühne wieder für einen Hauch Zeit der Saal und dessen Aufmerksamkeit.

Diese Animateurisierung der Bands ist seit Jahren schon auf den Vorstellabenden der Musikervereinigungen zu bemerken. Viele Gesellschaften geben diesem Trend seit Jahren nach, buchen immer die gleichen Gruppen, deren Songs bekannt sind und die zu denen gehören, die halt alle kennen, weil sei omnipräsent sind. Der Mut zur Nische und Lücke fehlt und wird oft mit finanziellen Zwängen begründet. Nur, wenn der Saal zur Bahnhofshalle wird und hier nicht gegengesteuert wird, dann bewegen sich die Gesellschaften auf einem schmalen Grad, denn die nächste ultrakurze Session kommt bestimmt.

Eine weitere Unsitte, die seit Jahren toleriert wird, ist, dass wie bei Konzerten, jeder sein Smartphone rausholt und filmt. Nur anders als in Konzerten bleiben die Menschen nicht an ihrem Platz, sondern stellen sich im Mittelgang des Saales auf oder turnen vor der Bühne rum. Auch das kein neues Phänomen, aber die Entwicklung wird immer wilder. Im Jahr 200 des organisierten Karnevals, muss sich dieser und seine angeschlossenen Gesellschaften fragen lassen, was ist eine Sitzung? Organisierte Party-Bahnhofshalle mit Privat-Paparazzis oder eigentlich schon über der Schwelle zum Kostümball? Früher war auch nicht alles besser in Colonia: Da gab es immer wieder unruhige Momente in der Sitzung, dann bat der Sitzungsleiter diplomatisch die, die schnattern wollten ins Foyer und gut wars. Neu ist: Die Schnatterei beginnt vor der Sitzung und hört einfach nicht mehr auf bis diese beendet ist.

Das was in den letzten Jahren geordnet war und ausdifferenziert zwischen Gala-Sitzung, Kostümsitzung, Ball und Straßenkarneval und eine sich steigernde Choreografie in der Entwicklung der Session vom ruhigen zum wilderen Feiern inne hatte, gerät ausgerechnet im 200-jährigen Jubiläumsjahr stärker aus den Fugen als bisher.

Orte Kölscher Andacht

Dann gibt es diese Orte Kölscher Andacht. Übrigens auch Sitzungen, wie etwa die des Treuen Husar blau-gelb bei „Husare anno dazomal“. Menschen feiern eine Sitzung zusammen in harmonischem Gleichklang, singen gemeinsam Lieder, hören Rednern zu und wenn die Pointe durchaus deftig ist, wird sich krachend laut gefreut. Aber dann ist wieder Ruhe. Hier wird die Fanfare des Tusches als ordnendes Element gewürdigt. Rede, Musik und Tanz sind wohlgeordnet und bestens zwischen laut, leise, fordernd temperiert. Es braucht keine Animateure auf der Bühne, sondern das auf der Bühne dargebotene, steht für sich und bringt Applaus oder eben nicht. Diese Veranstaltung finden nicht nur seit Jahren immer mehr Zuspruch, sie haben sich auch durch die Corona-Pandemie nicht aus dem Konzept bringen lassen. Das Kölsch als Sprache findet hier seinen Platz oder muss es schon Nische genannt werden? In allen Formen, mal kerniger, mal differenzierter und verständlicher in der Moderation.

Kölsch, deftig und politisch nicht immer 100 Prozent korrekt

Die Kneipensitzungen sind Kölsch, deftig kernig und derb. Auch dort sitzen die Jecken. Und auch hier hören sie zu oder singen, wenn sie das Lied kennen mit. Es klappt also. Das Programm dort ist das Programm und wird nicht zur Selbstinszenierung der Jecken. Dort wie in den Flüstersitzungen ist das Programm und dessen Inhalt der Held. Aber auch die Überraschung, die Nonkonformität und das Erlebnis etwas mitzubekommen, was den eigenen Horizont und sei es nur den des eigenen Witzrepertoires erweitert, schätzen übrigens die vermehrt dort anzutreffenden jungen und älteren Jeck:innen. Hier steht nicht die Namedropping-Frage zum Programm „War auch XYZ da?“ im Mittelpunkt des Fokus von Programmgestaltern und Publikum.

Live Karneval kann mehr sein als der Konsum von jecken Top-Charts und das Erfüllen von eindimensionalen konsumigen Erwartungshaltungen. Guter Karneval ist die Erweiterung des eigenen Horizonts und das positive Erlebnis gemeinsam etwas zu erleben.

Eines ist wichtig: Diese Beschreibung ist eine Momentaufnahmen, die nicht generell auf alle Sitzungen passt – schließlich sollte nichts und niemand über einen Kamm geschoren werden, aber sich mit Trends im Kölschen Fasteleer auseinandersetzt.