Köln | Amor erfährt bei seinem Club-Besuch die Nachricht von einem Terroranschlag in der Stadt. Und damit beginnt das Chaos in seinem Kopf: Wird er fälschlich der Tat verdächtigt – oder war er tatsächlich der Attentäter? „Ich rufe meine Brüder“ ist ein furios inszeniertes Theaterstück darüber, wie Angst und Hysterie eine Gesellschaft, ein Individuum gefangen hält. In der Schauspiel-Grotte gab’s kräftigen Premierenbeifall.

Amor ist Student, eher nett und unbedarft. Sein Aussehen scheint ihn einer verdächtigen Gesellschaftsgruppe zuzuordnen – der, die einen Migrationshintergrund hat und der man deshalb einen Terroranschlag zutraut. Reichen Kapuzenjacke und „Haremshose“ für solchen Verdacht aus? Johannes Bennecke als Amor sieht alles andere als „mediterran“ aus. So hat auch dieses Puzzlesteinchen einen Bezug zu schnellen, vorurteilsgeladenen Reaktionen, wie sie hierzulande in vergleichbaren Fällen bekannt sind.

Ein Feuerwerk widersprüchlicher Erinnerungen und Einschätzungen

In Amors Kopf wird ein Feuerwerk einander widersprechender Erinnerungen und Einschätzungen ausgelöst. Bilder und Satzfetzen jagen sich. Da taucht eine alte Sandkastenliebe auf (Elena Hollender), er verdächtigt eine Tierschützerin – ja wessen eigentlich? Nur das sie einen falschen Namen angibt?

Hilfe sucht er bei Menschen, von denen er annimmt, sie gehören zu seiner „Gruppe“. Doch weder der Verkäufer in einem Baumarkt noch ein Anruf seiner Verwandten aus der „Heimat“ schaffen Klarheit. Ebenso nicht sein alter Schulfreund Shavi (Nikolaus Benda). Der war früher politisch aktiv, inzwischen aber scheint er nur noch liebevoller Vater einer kleinen Tochter zu sein.

Das Stück bietet seinem Protagonisten und dem Publikum keine Lösung

Die Inszenierung von Till Ertener dauert nur etwas mehr als eine Stunde. Doch die hat es in sich. Das Publikum durchläuft dieselbe Achterbahn der Gefühle wie Amor, muss sich auf die blitzschnellen Wechsel einstellen. Das verlangt höchste Konzentration, gekonnte Witze gewähren nur kurze Pausen. Doch nicht bei jeder Vorstellung dürfte genau dann ein Taxi an den geöffneten Containertüren der Grotte vorbeifahren, wenn Amor sagt: „Ich gehe jetzt in die U-Bahn.“

Was ist Realität, was Einbildung? Wo gibt Amor sein Selbstbild auf, wo übernimmt er gesellschaftliche Vorurteile gegen ihn? Er hat Einsicht in seine Stimmungs- und Wissenslage. Er erkennt: „Ich bin nicht sicher, wie viel sich nur in meinem Kopf abspielt“ – doch weiter hilft ihm das nicht. Auch dem Publikum wird eine klare Antwort verweigert. Das wäre auch zu einfach.

[infobox]„Ich rufe meine Brüder“ – die nächsten Vorstellungen: 12. und 19. März, jeweils 20 Uhr, Schauspiel Köln, Grotte im Carlswerk, Schanzenstr. 6-20, 51063 Köln-Mülheim, Karten: Tel. 0221 / 22 12 84 00, Fax 0221 / 22 12 82 49, E-Mail: tickets@buehnenkoeln.de, dazu alle Vorverkaufsstellen von KölnTicket. Kartenservice mit Vorverkauf und Abo-Büro in der Opernpassage zwischen Glockengasse und Breite Straße.

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Autor: ehu Foto: Ana Lukenda / Schauspiel
Foto: „Ich rufe meine Brüder“ mit Nikolaus Benda (v.l.), Elena Hollender und Johannes Bennecke. Foto: Ana Lukenda / Schauspiel