Genf | Im Mittelmeer ist erneut ein Flüchtlingsschiff mit Hunderten Menschen an Bord in Seenot geraten. Nach dem Drama am Sonntag bei dem es sehr viele Tote gegeben haben soll, meldet sich die deutsche Politik stärker zu Wort.

An Bord des Schiffs sollen sich laut eines Hilferufs über 300 Menschen befinden, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) am Montag in Genf mit. Weitere Hintergründe wurden zunächst nicht bekannt. Erst am Sonntag war ein Schiff im Mittelmeer gekentert. Bei dem Unglück sind vermutlich etwa 900 aus Afrika kommende Flüchtlinge ertrunken.

Steinmeier: Gründe für Flucht an der Wurzel bekämpfen

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) will nach dem jüngsten Flüchtlingsunglück im Mittelmeer, bei dem Hunderte Menschen ertranken, die Gründe für eine Flucht an der Wurzel bekämpfen. So müsse sich der Blick Europas auf „die Krisenherde vor Ort richten, insbesondere auf Libyen“, erklärte Steinmeier am Montag in Luxemburg, wo die Außenminister der EU über die europäische Flüchtlingspolitik beraten wollen. „Stabilität und nachhaltigen Erfolg im Kampf gegen Schleuserbanden, die Flüchtlinge sehenden Auges in den Tod schicken, wird es nur auf Grundlage einer politischen Einigung geben. Die Friedensgespräche zwischen den libyschen Parteien sind vielleicht auf lange Sicht die letzte Chance, Libyen vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren“, betonte der Außenminister. Wenn es den libyschen Parteien gelinge, sich auf einen Waffenstillstand und eine gemeinsame Regierung zu einigen, „müssen wir Europäer tun, was wir können, um schnell bei der Umsetzung und Stabilisierung zu helfen“. Zudem brauche es auf EU-Ebene „gemeinsame Anstrengungen zur Verbesserung der Seenotrettung“, so Steinmeier weiter.

„Notwendig ist – drittens – aber auch eine ehrliche Diskussion über Verteilungskriterien für Europa. Und viertens müssen wir unseren Kampf gegen kriminelle Schleuserbanden verstärken. Hierzu ist eine konzertierte internationale Allianz wichtig.“

Gabriel fordert nach Flüchtlingskatastrophen Einschreiten der EU

Angesichts der jüngsten Flüchtlingstragödien im Mittelmeer fordert der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel ein unverzügliches Einschreiten der Europäischen Union: „Die Zahl der täglich an den Küsten Nordafrikas und Europas sterbenden Menschen auf der Flucht vor Not, Elend und Krieg ist unerträglich. Europa muss auf allen Ebenen aktiv werden, um dieses tägliche Sterben auf dem Mittelmeer zu stoppen“, sagte Gabriel der „Bild“ (Dienstag). Der Vizekanzler schlug dafür eine gesamteuropäische Rettungsinitiative vor, wie sie bereits von der italienischen Marine und Küstenwache von Oktober 2013 bis Ende Oktober 2014 mit dem Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ durchgeführt wurde.

Zugleich betonte Gabriel die Notwendigkeit, auf europäischer Ebene die Kräfte zur Zerschlagung von Schlepper- und Menschenhändler-Banden zu bündeln. „Europa und Afrika brauchen einen großen und auf Dauer angelegten internationalen Einsatz gegen diesen tödlichen Menschenhandel“, erklärte Gabriel. Zur Bekämpfung der Fluchtursachen gehört nach Ansicht des SPD-Chefs auch „die internationale Hilfe zur Verbesserung der Lebensbedingungen“ in den Herkunftsstaaten als auch die „politische Stabilisierung in den Transitstaaten“.

Gabriel betonte, dass eine Zuwanderung nach Europa eine „sichere Alternative“ zu dem gefährlichen Weg über Schlepper-Banden und unsichere Mittelmeer-Schiffe braucht. „Wir brauchen in Europa neue Regeln für die geordnete und rechtlich gesicherte Zuwanderung aus Afrika inklusive der nordafrikanischen Anrainerstaaten des Mittelmeers“, sagte Gabriel der Zeitung. Eine Möglichkeit einer legalen befristeten Zuwanderung in die EU sei dabei beispielsweise „durch besondere Kontingente“ möglich.

Entwicklungsminister Müller bietet Vorfinanzierung von EU-Rettungsaktion an

Nach der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer fordert Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) die sofortige Wiederaufnahme von „Mare Nostrum“ als EU-Rettungsoperation: Sein Ministerium sei bereit, die Kosten der Operation von rund sechs Millionen Euro zunächst zu übernehmen. „Sollte es an den sechs Millionen Euro scheitern, biete ich eine Vorfinanzierung aus deutschen Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit an“, sagte Müller der „Saarbrücker Zeitung“ (Dienstag). Zugleich betonte der Minister, an den Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer könnten sich auch deutsche Rettungsschiffe beteiligen.

„Es gibt ja auch schon zivile Angebote, es gibt eine deutsche Seenotrettungsgesellschaft. Darüber werden wir uns jetzt konkret unterhalten müssen.“

Schlepperbanden: EU-Abgeordneter wirft Geheimdiensten Versäumnisse vor

Angesichts der Flüchtlingstragödien im Mittelmeer hat der CDU-Europapolitiker Elmar Brok den Geheimdiensten Versäumnisse beim Kampf gegen Schlepperbanden vorgeworfen. „Ich habe bis heute nicht verstanden, warum man die Chefs von Schlepperbanden nicht mithilfe von Geheimdiensten wie dem Bundesnachrichtendienst lokalisiert“, sagte Brok dem „Tagesspiegel“ (Dienstagausgabe). Die Schlepper machten mit dem Leid der Flüchtlinge ein „Milliardengeschäft“, das ausgetrocknet werden müsse, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament weiter.

Als „Schlüsselfrage“ zur Lösung der Notsituation in Nordafrika und im Nahen Osten bezeichnete Brok eine Verständigung auf eine Quotenregelung unter den EU-Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen.

IZA-Direktor für Neuausrichtung der Asyl- und Flüchtlingspolitik

Angesichts der neuesten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer hält der Direktor des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann, eine Neuausrichtung der deutschen und europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik für dringend geboten. „Die nicht endenden humanitären Katastrophen im Mittelmeer sind eine Blamage und Schande für ganz Europa“, sagte Zimmermann dem „Handelsblatt“ (Onlineausgabe). Da eine weitere Verschärfung der Gesamtsituation drohe, müsse die Situation endlich als Gesamtproblem der Europäischen Union angesehen werden, sagte Zimmermann weiter.

„Das bedeutet: Die Rettung von Boatpeople kann nicht allein der italienischen Marine überlassen werden, sondern auch andere Länder müssen sich engagieren.“ Eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge kann aus Zimmermanns Sicht durch feste Quoten zwischen den europäischen Ländern erreicht werden, die sich beispielsweise an der Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft orientieren. „Ein Versteckspiel einzelner Länder ist dann unmöglich.“

Der EU empfiehlt Zimmermann mit den Ursprungsländern Abkommen über „zirkuläre temporäre Arbeitsmigrationen“ zu schließen, um eine humane Alternative zur Flüchtlingsthematik zu bieten. Das Gebot der Stunde sei, auch Flüchtlinge und Asylsuchende frühzeitig in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Gesellschaft für bedrohte Völker attackiert de Maizière

Die Gesellschaft für bedrohte Völker kritisiert die harte Haltung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in Flüchtlingsfragen. „Wer sich angesichts der humanitären Katastrophe, die sich tagtäglich im Mittelmeer abspielt, nicht aus dem Sessel erhebt, ist eine traurige Figur“, sagte Tilman Zülch, Präsident der Gesellschaft, gegenüber der „Leipziger Volkszeitung“ (Dienstagausgabe). Der Innenminister trage mit seinem gesamten Verhalten nicht dazu bei, die Fluchtursachen zu bekämpfen.

Der Minister gehe immer nur auf „Abwehrhaltung“ und begegne seinen Kritikern und Hilfsorganisationen als ein „sehr harter und recht intoleranter Politiker“, kritisierte Zülch. De Maizière sei Repräsentant eines wirtschaftlich starken Deutschlands, das sich nicht um ein gesamteuropäisches Wiederaufbauprogramm für die Krisenzone Afrikas bemühe. Und es spräche in diesem Zusammenhang für sich, dass die Bundesrepublik „selbst nach einem Jahrhundert noch immer nicht den Völkermord an den Armeniern anerkennen will“.

Autor: dts