Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

Karlsruhe | dts | aktualisiert | Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage zu treffen.

Das geht aus einem Beschluss vom 16. Dezember hervor, der am Dienstag veröffentlicht wurde. Die Karlsruher Richter entschieden dabei, dass der Gesetzgeber die Verfassung verletzt hat, weil er es bisher unterlassen hat, entsprechende Vorkehrungen zu treffen.

Die Politik müsse dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert werde, hieß es. Der Gesetzgeber sei gehalten, dieser Handlungspflicht „unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen“. Bei der konkreten Ausgestaltung komme ihm ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu, so das Verfassungsgericht.

Hintergrund der Entscheidung ist eine Verfassungsbeschwerde mehrerer Personen, die schwer und teilweise schwerst behindert und überwiegend auf Assistenz angewiesen sind. Sie begehrten einen wirksamen Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung im Fall einer Triage. Die Beschwerdeführer waren der Auffassung, der Gesetzgeber schütze sie in diesem Fall nicht vor einer Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung (1 BvR 1541/20).

Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) sieht Urteil positiv

Der LVR ist nach eigenen Angaben der größte Leistungsträger für Menschen mit Behinderungen. Er begrüßte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Triage. Schon im April 2020 forderte der LVR, dass Menschen mit Behinderung in der Pandemie nicht medizinisch benachteiligt werden dürfen.

LVR-Direktorin Ulrike Lubek in einem schriftlichen Statement: „Aus Sicht des LVR muss eine Triage unbedingt diskriminierungsfrei gestaltet werden. Keinesfalls dürfen körperliche, geistige und psychische Beeinträchtigungen als besondere Risiken oder ‚Gebrechlichkeiten‘ interpretiert werden, die per se gegen eine Behandlung sprechen könnten. Insofern begrüße ich sehr, dass das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde mehrerer Menschen mit Behinderung stattgegeben hat.“

Karlsruher Triage-Urteil stößt auf Zustimmung  

Das Triage-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist bei Patientenschützern und in der Politik auf Zustimmung gestoßen. „Auf dieses Urteil haben wir 40 Jahre lang gewartet“, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, der „Rheinischen Post“ (Mittwochsausgabe). „Entscheidungen über Leben und Tod in Knappheitssituationen dürfen nicht den Ärzten überlassen werden.“

Der Deutsche Bundestag dürfe sich da nicht weiter wegducken. „Das Verfassungsgericht hat den Bundestag nun mit diesem Urteil gezwungen, im kommenden Jahr ein Gesetz zu beschließen, das Leitplanken für die Behandlung von Patienten in Knappheitssituationen setzt“, sagte Brysch. „Das ist überfällig, denn wir erleben ja jetzt in der Coronakrise solche Knappheiten auf den Intensivstationen.“

Die Politik sei bei dieser schwierigen Frage nicht außen vor, denn sie stelle ja die Finanzmittel für das Gesundheitssystem bereit. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schrieb unterdessen bei Twitter, dass er das Urteil ausdrücklich begrüße. „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst Recht im Falle einer Triage.“ Jetzt aber heiße es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern, so der SPD-Politiker. Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery forderte den Gesetzgeber auf, „Leitplanken“ zu definieren, an denen sich Ärzte bei ihrer Entscheidung orientieren könnten.

„Der Bundestag definiert die Leitplanken, medizinisch-wissenschaftlich kompetente Organisationen formulieren die Handlungsleitlinien – und passen sie entsprechend dem Stand der Wissenschaft an“, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Aber die Verantwortung für die Letztentscheidung werde immer bei den Ärzten bleiben. FDP-Vize Wolfgang Kubicki bezeichnete das Triage-Urteil unterdessen als „rechtlich nachvollziehbar“.

Nach der Wertentscheidung des Grundgesetzes müssten Fragen von Leben und Tod durch den Gesetzgeber entschieden werden und nicht durch private Übereinkunft, sagte er der „Rheinischen Post“.

Bundesregierung will Triage-Gesetzentwurf „zügig“ vorlegen

Nach dem Triage-Urteil des Bundesverfassungsgerichts will die Bundesregierung „zügig“ einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Das kündigte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) am Dienstag über den Kurznachrichtendienst Twitter an. „Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt“, schreibt er.

Wenn aber doch, dann bedürfe es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten. Die Grünen wollen unterdessen nach der Entscheidung aus Karlsruhe rasche Beratungen im Bundestag unter Einbeziehung von Union und Linkspartei führen. Im Parlament werde nun eine „sorgfältige und zügige Prüfung und Erörterung“ nötig sein, wie die Entscheidung der Karlsruher Richter umgesetzt werden könne, sagte Grünen-Fraktionsvize Maria Klein-Schmeink dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“.

Es sei nun am Gesetzgeber, hier Vorkehrungen zu treffen. „Wir werden gemeinsam mit SPD und FDP beraten, wie dieser Auftrag des Verfassungsgerichts eine Umsetzung finden kann und mit den anderen demokratischen Fraktionen dazu ins Gespräch kommen.“ Die Union hatte zuvor bereits darauf gedrängt, das Karlsruher Urteil schnell umzusetzen.

„Jetzt muss die Bundesregierung zügig einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten verhindert wird“, sagte der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Günter Krings (CDU), der „Rheinischen Post“. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Gesetzgeber am Dienstagvormittag aufgefordert, „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage zu treffen.