Berlin | Angesichts der Wohnungsnot fordert der Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, der Staat solle selbst mehr Wohnungen besitzen, damit das Recht auf Wohnen eingelöst werden könne. Der „Welt am Sonntag“ sagte Habeck: „Olaf Scholz sollte morgen anordnen, dass alle Grundstücke der Bundesimmobiliengesellschaft an die Kommunen abgegeben werden, wenn diese sich verpflichten, darauf Sozialwohnungen zu errichten. Zu Preisen, die die Kommunen zahlen können.“ Die Debatte über Enteignungen ist voll entfacht: Horst Seehofer, CSU, Christian Lindner, Ralf Stegner, SPD und Katja Kipping meldeten sich ebenfalls zu Wort. In Köln demonstrierten hunderte Menschen am Wochenende für günstigere Mieten.

Auch müssten dringend Schritte gegen Leerstand in Städten ergriffen werden. Habeck empfahl, sich die Politik seines Parteifreundes und Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer zum Vorbild zu nehmen. „Palmer geht die Bodenspekulation an. Er will, dass brachliegende Grundstücke in den nächsten Jahren bebaut werden – und setzt dafür auf ein Baugebot aus dem Baurecht.“ Wenn diese Maßnahmen keinen Erfolg zeigten, „muss notfalls die Enteignung folgen“. „Das Grundgesetz sieht solche Enteignungen zum Allgemeinwohl ausdrücklich vor. Es wäre doch absurd, wenn wir das nur anwenden, um neue Autobahnen zu bauen, aber nicht, um gegen die grassierende Wohnungsnot vorzugehen“, sagte Habeck der „Welt am Sonntag“.

Seehofer sieht in hohen Mieten „die soziale Frage unserer Zeit“

Der für die Bautätigkeit zuständige Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat die Wohnungsnot zu einem zentralen Problem in Deutschland erklärt. „Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit“, sagte Seehofer zu „Bild am Sonntag“. „Trotz einer beachtlichen Steigerung der Bautätigkeit bleibt die Wohnungsmarktsituation in den wirtschaftsstarken Regionen deutlich angespannt.“

Lukas Siebenkotten, Bundesdirektor des Deutschen Mieterbunds, warnt in „Bild am Sonntag“: „Bei weiter steigenden Mieten steht der soziale Frieden in Deutschland auf dem Spiel.“ Die Bundesregierung habe seit März 2018 mit zahlreichen Maßnahmen gegengesteuert, so Seehofer. „Wir stellen in dieser Legislaturperiode allein für den sozialen Wohnungsbau, das Baukindergeld, das Wohngeld und die Städtebauförderung über 13 Milliarden Euro zur Verfügung. Den Erfolg dieser Maßnahmen werden wir in den nächsten Jahren spüren.“ Am Samstag sind in Berlin Zehntausende gegen zu hohe Mieten auf die Straße gegangen, viele fordern eine Enteignung großer Mietkonzerne. Diese Forderung ist in Deutschland konsensfähig: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid für „Bild am Sonntag“ sind 46 Prozent der Bundesbürger dafür, dass große Immobilienunternehmen enteignet werden sollen, wenn sie zu hohe Mieten verlangen.

40 Prozent sind dagegen. Im Osten sind sogar 64 Prozent für Enteignungen, nur 36 Prozent dagegen, im Westen 42 Prozent dafür, 41 Prozent dagegen. Für „Bild am Sonntag“ befragte Emnid 505 Menschen am 4. April 2019. Frage: „Sollten große Immobilienunternehmen in Ballungsräumen enteignet werden, um weitere Mietsteigerungen zu verhindern?“

Lindner attackiert Habeck wegen Enteignungs-Vorschlag

FDP-Chef Christian Lindner hat Grünen-Chef Robert Habeck für dessen Vorschlag, im Kampf gegen den Wohnungsmangel notfalls auch Immobilienbesitzer zu enteignen, scharf kritisiert. „Gegen steigende Mieten helfen nur mehr Wohnungen und nicht DDR-Ideen“, sagte Lindner der „Rheinischen Post“ (Montagsausgabe). „Oft haben gerade die Grünen Baukosten verteuert und neue Siedlungsflächen verhindert.“

Die Grünen würden nun „ihre bürgerliche Maske“ fallen lassen. Das Konzept sei kontraproduktiv: „Das verschreckt alle privaten Investitionen in Wohnungen und beschädigt die Eigentumsgarantie der Verfassung“, so Lindner.

SPD-Vize Stegner für Enteignungen „als letztes Mittel“

SPD-Vize Ralf Stegner hat sich in der Debatte über Enteignungen gegen Parteichefin Andrea Nahles gestellt. „Wir sollten Enteignungen als letztes Mittel nicht ausschließen“, sagte Stegner dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (Montagsausgaben). „Es gibt teilweise halbkriminelles Verhalten, bei dem die Not der Mieter ausgenutzt wird. In diesen Fällen muss der Staat Handlungsfähigkeit beweisen.“ Im Zweifel sei die SPD Mieterpartei, sagte Stegner. „Bei uns gilt der Grundsatz, dass Eigentum verpflichtet.“

Der SPD-Vize sagte weiter, dass Enteignungen nur im Ausnahmefall als Mittel eingesetzt werden sollten und man primär andere Wege gehen wolle, die Wohnungsnot zu verringern. Auch würden Enteignungen „nicht entschädigungslos“ umgesetzt werden, so Stegner. Anders als Stegner lehnt SPD-Chefin Nahles Enteignungen ab.

Sie verstehe die Wut auf Wohnungskonzerne, „die jeden Cent aus den Mietern rauspressen“ wollten, sagte sie der „Bild am Sonntag“. Enteignungen dauerten aber Jahre und schafften keine einzige Wohnung. Die Milliarden, die der Staat als Entschädigung zahlen müsse, fehlten für den Neubau. Die SPD wolle daher lieber einen Mietenstopp.

Kipping verlangt von SPD „mehr Mut“ bei Enteignungen

In der Diskussion über mögliche Enteignungen als Mittel gegen steigende Mieten hat sich Linken-Chefin Katja Kipping klar gegen die Haltung von SPD-Chefin Andrea Nahles gestellt. „Ich wünsche mir mehr Mut von Andrea Nahles und der SPD“, sagte Kipping der „Welt“ (Montagsausgabe). „Enteignungen von vornherein auszuschließen, obwohl sie das Grundgesetz erlaubt, ist das falsche Zeichen.“

Die Mitte werde jeden Monat durch explodierende Mieten enteignet. „Deshalb brauchen wir die Sozialisierung der Wohnungskonzerne“, forderte Kipping. „Wir müssen das Problem an der Wurzel lösen. Eine Regierungsalternative links der Union kann nicht bei der Verwaltung der Missstände stehen bleiben.“ Nahles hatte in der „Bild am Sonntag“ Enteignungen als Instrument gegen Mietsteigerungen und Wohnungsnot abgelehnt. „Ich verstehe die Wut auf Wohnungskonzerne, die jeden Cent aus den Mietern rauspressen wollen“, sagte Nahles.

„Aber Enteignung dauert Jahre und schafft keine einzige Wohnung.“ Die für Entschädigungen fälligen Milliardenzahlungen des Staates fehlten für den dringend benötigten Neubau durch öffentliche Wohnungsbaugesellschaften.

Autor: dts