Köln | Am frühen gestrigen Abend verlieh Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters in der Piazzetta des Historischen Rathauses den Heinrich Böll Preis an Eva Menasse. Eva Menasse, die Entscheidung der Jury fiel im Juni (report-k.de berichtete) mischt sich aktiv als Schriftstellerin in die Politik ein und agierte in der vergangenen Bundestagswahl für Peer Steinbrück. Ihre Dankesrede begann sie mit wuchtigen politischen Fragen zum Hier und Jetzt und versuchte eine Einordnung der heutigen Welt aus der Sicht von Heinrich Böll. Eine spannende Ausführung.

Eva Menasse wurde 1970 in Wien geboren und studierte zunächst Germanistik und Geschichte. Zunächst führte sie ihr beruflicher Weg in den Journalismus unter anderem für das Wiener Nachrichtenmagazin „Profil“ und später auch als Feuilletonistin der FAZ. Bekannt wurde sie unter anderem durch ihre Reportagen über den 2000 abgeschlossenen Prozess gegen den Holocaust-Leugner David Irving in London, die im Band „Der Holocaust vor Gericht“ zusammengefasst sind. Es folgten die Romane „Vienna“, der Erzählband „Lässliche Todsünden“ und der Roman „Quasikristalle“.

Dr. Carolin Emcke würdigte die Arbeiten von Menasse und dass obwohl sie die Autorin gar nicht kenne. Denn man sei sich ein einziges Mal bei einem Abendessen in Berlin begegnet und habe sich gestritten, so die Laudatorin. Emcke lobt: „Es sind Texte, die die Leserinnen und Leser nicht nur nicht unberührt, sondern auch nicht beschützt oder rein lassen. Eben noch scheinbar harmlos angezogen von einer vertrauten Figur, einer sympathischen Stimme, einer heiteren Tonlage gerät man mitten hinein in all die ambivalenten, brüchigen, verwirrenden Unübersichtlichkeiten, die Leben heißen, und man kann sich nicht mehr wehren gegen das, was diese Texte mit einem machen: sie begleiten einen fortan, lassen einen nicht mehr los, sie unterwandern das eigene Denken und Fühlen mehr als sich ahnen lässt, sie reichen hinein in die eigenen Träume, in diese nächtlichen Stunden des vagen Tastens und Suchens nach Bildern und Begriffen für das Unbegriffene des Tages. Die Texte von Eva Menasse schreiben sich ein in die eigene emotionale Textur und schreiben sie um. Das ist nicht nur grandios, das ist auch eine Zumutung.“

In ihrer Dankesrede stellte sich Eva Menasse die Frage, wie Heinrich Böll heute auf die aktuellen Ereignisse reagiert hätte. Sie fragte: „Was hätte wohl Heinrich Böll dazu gesagt? Zur Umfrage einer Wochenzeitung kurz vor der letzten Bundestagswahl, in der von 48 bekannten Wissenschaftlern, Künstlern, Intel-lektuellen etwa ein Viertel mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger stolz ihre Wahl-verweigerung öffentlich bekundeten? Wo dieses Viertel der Befragten egozentrische Sätze schrieb wie „selten war ich mir so unschlüssig“, unfreiwillig komische Sätze wie „früher habe ich noch an Parteien geglaubt“, denkfaule Sätze wie „wie soll man in differenzlosem Feld eine Entscheidung treffen“, und bemitleidenswert erschöpfte Sätze wie den folgenden: „Das Beste, was wir im Augenblick haben, ist die erzwungene Solidarität unter uns Wahlmüden“? Was hätte er gesagt zu dem großen Essay eines angesehenen Wissen-schaftlers, der wortgewaltig viel richtige Kritik an hochkomplexen politischen Phänomenen äußerte, nur um dann mantraartig zu dem unterkomplexen Schluss zu kommen, die ein-zige Möglichkeit, darauf zu reagieren, sei nicht mehr wählen zu gehen?

Was hätte Böll gesagt angesichts von Medien, die diese todschick gewordene Politikver-drossenheit, diese Denk- und Entscheidungsfaulheit nicht bloß transportieren, sondern lustvoll vervielfältigen, in dem sie ausgerechnet den Nichtwähler zum einfühlsam zu seinen Beweggründen interviewten Superstar aufbauen? Wo sich Talkmaster inzwischen auch in gehobenen Programmen als unerbittliche Ankläger gerieren, die dem Angeklagten, also dem Politiker, der ohnehin vorverurteilt ist, aus ihren unendlichen digitalen Archiven seine Fehlleistungen, Tränen und falschen Versprechungen vorspielen? Wo sie einem Kanzlerkandidaten, der über Maßnahmen zur Gleichberechtigung spricht, als Ant-wort höhnisch O-Töne aus Fußgängerzonen zeigen, wo irgendwelche Frauen sagen, dass ihnen die Mundwinkel dieses Bewerbers aber einfach nicht gefallen?

Was hätte Heinrich Böll gesagt angesichts einer Öffentlichkeit, in der sich die Reste von Sachpolitik aufgelöst haben wie in einer homöopathischen Zuckerlösung, weil es nur noch um Äußerlichkeiten geht, um Fingerhaltungen, Halsketten und die Frage, wie einer „an-kommt“ und nicht, ob er etwas zu sagen hat?

Was würde Heinrich Böll heute zur Lage in seinem Deutschland sagen? Nach fast siebzig Jahren Frieden ist es zu einem der reichsten und mächtigsten Länder der Welt geworden, während anderswo auf der Welt, nicht nur in Syrien, täglich Tausende fliehen und Hunderte sterben, während regelmäßig Dutzende, an schlechten Tagen auch hunderte Flüchtlinge im Meer zwischen Afrika und Europa ertrinken, und die paar wenigen, die ihre Haut heil bis zu uns gerettet haben, treten nach kurzer Zeit in unseren kalten Kirchen lieber in den Hungerstreik, als ein sinn- und trostloses Dasein als zwar durchgefütterter, aber jeder Zukunft beraubter Asylant zu führen. Was hätte Böll gesagt zu diesem Deutschland, das sich am liebsten dann intellektuell anstrengt, wenn es darum geht, die eigene Untätigkeit zu verteidigen, die eigene, erstickende Langeweile zu beschwören?“

Und Eva Menasse gab am Ende Ihrer Rede auch Antworten: „Aber das Interessante ist: Jetzt, wo die Grundfesten unserer westlichen Demokratien zum ersten Mal wirklich unterhöhlt werden, beginnen sich Schriftsteller wieder zu benehmen wie damals Heinrich Böll. Sie melden sich zu Wort, sie zeigen ihr Gesicht, sie gehen hinaus, machen Lärm und machen sich angreifbar. Das ist die einzige gute Nachricht: dass Bölls Erbe noch nicht ganz verloren scheint. Eine Schmerzgrenze scheint überschritten, bei den Menschen meines Berufsstandes, die ja nicht nur von Schriftlichem, von Briefen und Texten und Kommunikation leben, sondern die, um überhaupt Schriftsteller zu sein, vor allem „hochrechnen können müssen“, wie es Katja Lange-Müller einmal formuliert hat. Das ist, was wir täglich tun, wenn wir schreiben: Das, was ist, gedanklich in die Zukunft und in alle seine Spielarten hinein zu verlängern. Das Was-Wäre-Wenn ist unser Geschäft. Deshalb bin ich lieber eine aufgeregte Autorin als ein abgeklärter Nichtwähler.

Und deshalb waren es wohl, nicht nur in Deutschland, die Schriftsteller und Autoren, von denen die ersten Proteste kamen, als die Enthüllungen von Edward Snowden, dieses modernen Helden, begannen. Als vor acht Wochen zwei Dutzend deutscher Dichter fast 70.000 Unterschriften von Bürgern, die unseren Protest und unsere Forderung nach Auf-klärung unterstützten, persönlich zum Kanzleramt brachten und dort abgaben, haben wir uns wieder einmal rundum lächerlich gemacht, wie uns auf allen Kanälen umgehend be-scheinigt wurde. „Hochmütig und peinlich“ sei das, sagte ein berühmter Schauspieler. Wo er das sagte? Natürlich in einer Talkshow. Nicht draußen im Regen.
Eine junge Lyrikerin namens Anke Bastrop hat im Anschluss daran einen hinreißenden Text geschrieben, aus dem ich Ihnen vorlesen will: „Ich wollte mich dort hinstellen: in der ganzen stolzen Fragilität, dieser seltsamen Angreifbarkeit unseres Menschseins. Ohne sichernde Aufmärsche, Fanfaren und Megaphone. So, wie jeder Einzelne der Welt gegenübersteht. Mit Hochmut hat das wenig zu tun, mit Nacktheit viel. Ich wollte das: verletzbar sein. Es entspricht dem Stand des Wortes in der virtuellen Welt.“

Das ist, mit anderen Worten, die Saat von Heinrich Böll, die überwintert hat und wieder aufgehen wird. Was immer Sie tun, denken Sie an Bölls Worte: „Herr Oberst, wir gefährden die Demokratie nicht, wir machen Gebrauch von ihr“. Machen wir Gebrauch von unserer Demokratie. Damit aufzuhören, ist das Einzige, was verboten ist.“

Der Heinrich-Böll-Preis ist die wichtigste literarische Auszeichnung der Stadt Köln. Der Preis wird seit 1985 verliehen, seit 1992 alle zwei Jahre, und ist mit 20.000 Euro dotiert.

Autor: Andi Goral
Foto: Eva Menasse bei der Preisverleihung