"Die erste Generation waren Gäste. Viele sind geblieben und denken jetzt nicht mehr daran zurück zu kehren. Es gibt bereits 72.000 türkische Arbeitgeber mit 350.000 Arbeitsplätzen. Der Gastarbeiter von gestern wird langsam auch Arbeitgeber, Akademiker, Künstler", so der türkische Premier. "Das türkische Volk sieht das deutsche Volk immer noch mit sehr positiven Gefühlen an. Deswegen sollte Deutschland mit der Türkei viel mehr Solidarität zeigen." Erdogan warf der Bundesregierung insbesondere zu wenig Unterstützung beim geplanten Beitritt seines Landes zur Europäischen Union vor: "Die deutsche Politik müsste viel mehr für den EU-Beitritt der Türkei tun, weil er die Integration massiv vorantreiben würde. Weil wir Türken so viel Positives für Deutschland empfinden, fühlen wir uns gerade hier im Stich gelassen." Vehement kritisierte Erdogan die deutsche Gesetzgebung, wonach türkische Angehörige vor dem Zuzug nach Deutschland die deutsche Sprache erlernen müssen. Erdogan: "Wer Deutschkenntnisse zur wichtigsten Voraussetzung erklärt, verletzt die Menschenrechte." Deutschland müsse zugezogene Türken "nicht als Gefahr, sondern als Bereicherung sehen", so Erdogan. "Wenn ein junger türkischer Mann ein Mädchen aus der Türkei liebt und heiraten möchte, wird dies als ein Fehler angesehen, denn die Bundesregierung verlangt, dass diese Frauen vorher Deutsch lernen müssen. Aber ich bitte Sie, welche Sprache spricht die Liebe? Es kann doch nicht sein, dass die Liebe junger Menschen per Verordnung nur auf Deutsch funktionieren darf." Erdogan bekräftigte, dass Türken in Deutschland ihren Kindern zuerst Türkisch und dann Deutsch beibringen sollen. Dies sei "nur eine sprachwissenschaftliche Erkenntnis. Wenn ein Kind eine neue Sprache erlernen soll, muss es die eigene Sprache gut können. Andernfalls kann man keine zweite Sprache erlernen." Lob fand der türkische Regierungschef dagegen für die Äußerung von Bundespräsident Christian Wulff, wonach der Islam zu Deutschland gehöre. "Ich habe dem Bundespräsidenten schon damals für diesen Satz gedankt", so Erdogan, "er beschreibt nichts anderes als die Tatsachen: Es leben fünf bis sechs Millionen Muslime in Deutschland; sie gehören zur Realität Ihres Landes. Genauso sage ich, dass die in der Türkei lebenden Christen und Juden zur Türkei gehören."

Aktualisiert: Der frühere Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, sieht bei der Integrationspolitik Versäumnisse auf beiden Seiten.

Es laufe nicht alles rund, "denn wenn alles rund laufen würde, bräuchten wir keine Integrationspolitik, bräuchten wir keinen nationalen Integrationsplan und würde auch Herr Sarrazin mit seinen Büchern nicht so viel Erfolg haben", sagte Laschet im Deutschlandfunk. Man habe in diesen 50 Jahren seit dem Anwerbeabkommen auf beiden Seiten auch sehr viel verschlafen. Das versuche man jetzt mit großen Anstrengungen aufzuholen, "mit Sprachförderung schon in den Kindergärten, mit Ganztagsangeboten, damit Kinder unabhängig von den Eltern auch einen sozialen Aufstieg schaffen können, da ist noch viel zu tun", erklärte Laschet. Doch auch die Türkei habe lernen müssen, dass sie die Menschen nicht als Vertreter ihres Landes ansehen, sondern "dass sie sagen, die sind heute deutsche Staatsbürger."

[dts]