Köln | Seit Beginn der 90er Jahre verließen rund 220.000 Menschen jüdischen Glaubens die frühere Sowjetunion und immigrierten nach Deutschland. Etwa 35.000 kamen nach Nordrhein-Westfalen, rund 3.000 nach Köln, und sorgten dort für starken Zuwachs in den jüdischen Gemeinden. Vor allem die älteren jüdischen Zuwanderer brachten vielfältige Erinnerungen und Erfahrungen aus Krieg und Verfolgung mit nach  Deutschland. Diese Erfahrungen wurden in dem Projekt „Lebenswege und Jahrhundertgeschichten“ zwischen 2009 und 2012 gesammelt und dokumentiert. Unter dem gleichnamigen Titel ist nun ein Buch erschienen, in dem 40  Zuwanderer mit ihrem persönlichen Schicksal porträtiert werden. Parallel zum Buch entstand ein Internetauftritt. 

Auf Initiative der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe interviewte das NS-Dokumentationszentrum (NS-DOK) der Stadt Köln 40 Menschen der Jahrgänge 1914 bis 1938, die als „jüdische Zuwanderer“ nach NRW gekommen waren. Diese erzählten vor der Kamera ihre Lebensgeschichten: von den Zeiten nach der Russischen Revolution über Verfolgung und Tod während des Zweiten Weltkriegs und  ihre Situation während des Stalinismus bis zu den Erfahrungen in Deutschland heute. Laut Werner Jung, dem Direktor des NS-DOK, ist so ein in Deutschland bisher einmaliges Projekt realisiert worden, dessen Entstehung nicht zuletzt aufgrund der sprachlichen und kulturellen Hürden zwischen den Interviewpartnern mehrere Jahre in Anspruch nahm.

„Viel Mühe und Überwindung“

Die Erinnerungen der Zeitzeugen sind geprägt von persönlichem Leid. Sie geben Einblick in die Verbrechen des NS-Regimes und die Erfahrung des Krieges anhand von Zeitzeugenberichten. Die Interviews handeln von Ausgrenzung im Sowjetregime und der ständigen Konfrontation mit Antisemitismus. Sie vermitteln aber auch individuelle Lebenswege und persönliche Blickwinkel, handeln von Überleben und Neuanfang.  

Allen Interviewten habe man angemerkt, dass es ihnen ein wichtiges Bedürfnis war, über das Geschehene und Erlebte zu berichten, so Thomas Roth, Historiker und Autor des Buches. Gleichzeitig hätten die Erzählungen den Beteiligten viel Mühe und Überwindung gekostet. So seien während der Interviews immer wieder Brüche entstanden, Sätze seien nicht zu Ende formuliert worden – aufgrund der schmerzhaften Erinnerungen während der Gespräche.

Den einzelnen Interviews, zwischen eineinhalb und fünf Stunden lang, sei ein Vorgespräch vorangegangen, erläutert Roth. Hierbei habe man die Beteiligten auf die Interviewsituation vorbereitet. Während eines zweiten Termins sei dann das eigentliche Interview mithilfe eines Dolmetschers durchgeführt worden, bei den Beteiligten zu Hause. Hierbei entstanden auch Fotoaufnahmen, die die Interviewten einmal in ihrer Wohnung und zusammen mit einem wichtigen persönlichen Gegenstand zeigen und die im Buch das Kurzporträt der jeweiligen Person einrahmen.

Buch ist eine Art Denkmal

Einer der Interviewten ist Borys Tsargorodskiy. Er berichtet über seine Familie, die im Zweiten Weltkrieg von Odessa in Richtung Sibirien vor den Deutschen flüchtete. Und die Geschichte seines Onkels Abram Brodskij, der Borys Mutter und ihren kleinen Kindern zur Flucht verhalf, dem Massenmord durch die Nationalsozialisten entkam, als Partisan gegen die Besatzer kämpfte und 1944 an einem unbekannten Ort in Weißrussland fiel.  Tsargorodskiy sagt, er wundere sich, dass ein solches Projekt in Deutschland, im Land der Täter realisiert worden sei. „Das ist eigentlich paradox.“, sagt er, aber er schätze es sehr, dass das Buch entstanden sei. Tsargorodskiy sieht in dem Buch eine Art Denkmal für seinen Onkel Abram, von dem er nicht weiß, wo er bestattet wurde. Das Titelbild des Buches zeigt einen Tagebucheintrag Abrams aus dem Jahre 1942.

Die Ergebnisse aus dem Projekt sollen laut der Macher dabei nicht nur einen wichtigen Beitrag zur jüdischen Geschichte liefern, sondern zur Abbildung der Geschichte eines ganzen Jahrhunderts beitragen. Durch das  Projekt „Lebenswege und Jahrhundertgeschichten“ wird die Erinnerungen der jüdischen Zuwanderer auf zweierlei Weise . Zum einen ist ein Buch mit den Biografien der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen entstanden. Ausschnitte der geführten Interviews, ausgewählte Fotos und Dokumente sowie fotografische Porträts der jüdischen Zuwanderer – Das Buch setzt diesen Menschen gewissermaßen ein Denkmal und liefert historische Hintergrundinformationen zu deren individuellen Lebensgeschichten.

Über 50 Stunden Filmmaterial

Um ein breiteres und jüngeres Publikum anzusprechen, wurde darüber hinaus auch eine Internetauftritt eingerichtet. Er präsentiert die für das Projekt geführten Videointerviews und zeigt die Erzählungen der Zeitzeugen in ihrer ganzen Komplexität – mit insgesamt über 50 Stunden Filmmaterial. Die Interviews, meist in russischer Sprache geführt, können in voller Länge auf der Internetpräsenz angesehen werden. In einem Textfeld unterhalb des Videos wird eine Übersetzung in die deutsche Sprache geliefert. Die Interviews sind in Kapitel unterteilt und thematisch geordnet. Im Buch sind sie in einer gekürzten Version abgedruckt.

Sowohl Buch als auch Internetauftritt sind in deutscher und russischer Sprache gehalten. So sollen möglichst viele und vor allem junge Menschen hier und in den Herkunftsländern der Interviewten und dem heutigen Lebensumfeld der Zeitzeugen von ihren Geschichten und Schicksalen erfahren.

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„Lebenswege und Jahrhundertgeschichten. Erinnerungen jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Nordrhein-Westfalen.“

Zusammengestellt und bearbeitet vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Herausgegeben von der Synagogen-Gemeinde Köln, dem Landesverband der Jüdischen
Gemeinden von Nordrhein und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe. Aufgezeichnet von Ursula Reuter und Thomas Roth. Mit Porträts von Anna C. Wagner.
Erschienen im Emons Verlag, Köln, 2013.
544 Seiten in deutscher und russischer Sprache, mit zahlreichen Abbildungen.
ISBN 978-3-95451-226-3

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Autor: Daniel Deininger
Foto: Cover des Buchs „Lebenswege und Jahrhundertgeschichten“.