Wenn die große Liebe an den Abgrund gerät

Köln | Wer die Radierungen Max Klingers und die Grafiken Edvard Munchs betrachtet, würde auf den ersten Blick vermuten, dass diese beiden Künstler aus komplett unterschiedlichen Epochen stammen. Doch beide sind beim Alter gerade einmal sieben Jahre auseinander. Während der in Leipzig geborene Klinger für den Naturalismus des 19. Jahrhunderts steht, den er mit einer modernen Erzählweise vereint, wird der Norweger Munch mit dem Durchbruch der Moderne verbunden.

Beide sind bedeutende Symbolisten, beide geniale Grafiker und beide beschäftigen sich intensiv mit dem Verhältnis von Mann und Frau. Kaum bekannt ist, dass sich der berühmte Norweger in seinen Seelenbildern von Klingers Kunst inspirieren ließ. Er war für Munch ein großes Vorbild. Beide sind sich zwar nie begegnet, aber das Werk Klingers war Munch durchaus gut bekannt. Wie das Zusammenspiel der beiden Künstler funktioniert zeigt bis zum 20. September eine Sonderausstellung im Kölner Wallraf. Die Schau „Liebe am Abgrund“ ist der zweite Teil der Liebestrilogie des Hauses und bringt den Besuchern zwei seelenverwandte Künstler näher.

Erstmals zeigt man auf der zweiten Etage 15 Blätter aus Klingers Radierzyklus „Ein Leben“, eine Leihgabe der Kölner Letter-Stiftung, und acht ausgewählte Munch-Grafiken, die thematisch den Radierungen Klingers zugeordnet worden sind. Sie stammen aus der eigenen Sammlung des Wallrafs. Anlass der Gegenüberstellung ist Klingers Todestag, der sich am 4. Juli zum 100. Mal jährt. Die Sonderschau ist bereits die dritte nach der Wiedereröffnung nach dem coronabedingten Lockdown.

Gezeigt wird bei „Liebe am Abgrund“ die dramatische Seite der Liebe und das Drama der Geschlechter. In Klingers Zyklus geht es um einer jungen Frau, die durch die große, gescheiterte Liebe zum gefallenen Mädchen wird, das als Prostituierte auf der Straße endet und dort schließlich den Tod findet. Im Prolog dazu geht es um den Sündenfall mit Adam und Eva im Paradies. Im Epilog finden sich Maria Magdalena genauso wieder wie die Kreuzigung Christi, der am Kreuz einen weiblichen Unterleib hat.

Bei den Grafiken Munchs wird immer wieder die weibliche Verführung thematisiert, die sich zum Beispiel an den langen Haaren der Frau verdeutlichen lässt, die den Mann vereinnahmen. Besonders deutlich wird dies bei einer farbigen Grafik mit einer Frau, die ihre roten Haare und damit ihre erotische Ausstrahlung zur Schau stellt. Ihr gegenüber gestellt wird ein Skulptur Klingers, die den Titel „Salome“ trägt. Auch im Werk Munchs findet sich bei einer Grafik dieser Titel. Hier bekommt der Mann die Verführungskraft der Frau zu spüren, wobei sich Munch in dieser Grafik mit einem Selbstbildnis in die Szene einbringt. Diese lehnt sich beim Motiv an Klingers Radierung „Träume“ an, die den ersten Teil der Geschichte im Zyklus erzählt.

Sowohl Klinger als auch Munch reflektieren in ihrem Schaffen immer wieder die Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern und die daraus resultierenden Spannungen und Konflikte. Ein Thema, das um 1900 nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur, Musik und Philosophie sehr beliebt ist. Das Drama der Geschlechter stellen beide in erstaunlich ähnlichen Motiven dar. Wohl schon 1881 lernt Munch in einer Ausstellung in Oslo die Druckgrafiken Klingers kennen. Zudem haben beide einen gemeinsamen Freund, den norwegischen Genremaler und Schriftsteller Christian Krohg. Bis 1909 greift Munch immer wieder Motive aus Klingers Grafik auf und übersetzt sie in seine eigene Bildsprache.

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Wallraf-Richartz-Museum, Obermarspforten, Köln, Öffnungszeiten: täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, am 1. und 3. Donnerstag im Monat bis 22 Uhr.

Autor: Von Stephan Eppinger