Köln | Reiner Calmund hat bei einer Feierstunde des Kölner Boulevardblattes „Express“ gesprochen. Nach der Rede entbrannte eine heftige Diskussion um den Redebeitrag, unter anderem auf dem Blog „sozialgeschnatter“ und die Aussagen von Calmund zu Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechten. Der Blog Sozialgeschnatter zitierte Calmund mit den Worten: „Wer heute noch in den Verlag komme, um nur seinen Arbeitsvertrag zu erfüllen, dem gehöre eine »Briefmarke auf den Hintern geklebt«. Der Kölner Professor Frank Überall schrieb daraufhin einen offenen Brief an Calmund und lud ihn zum offenen Dialog in die HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln-Zollstock ein. Auf Anfrage von report-k.de antwortete Reiner Calmund aus Thailand. Aber lesen Sie selbst.

Der Blog sozialgeschnatter berichtet über die Rede von Reiner Calmund zum 50-jährigen Jubiläum des Express und zitiert  sie so: „Am Montag ging’s los. Reiner Calmund donnerte die Kolleginnen und Kollegen aus den Verkaufsabteilungen an, sie sollten »arbeiten, arbeiten, arbeiten«. Nicht nur 40 oder gar nur 35 Stunden, sondern »mehr, mehr, mehr«. Wer heute noch in den Verlag komme, um nur seinen Arbeitsvertrag zu erfüllen, dem gehöre eine »Briefmarke auf den Hintern geklebt«. Freigestellten Betriebsräten, die mit der Gewerkschaft Tarifrechte einfordern, gehöre der »Stecker gezogen«. (…)“

Der direkte Link zum Post im Blog: http://sozialgeschnatter.wordpress.com/2013/12/14/reiner-calmund-pobeln-gegenarbeitnehmerrechte/

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Der offene Brief von Frank Überall an Reiner Calmund im Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Calmund,
mir war gar nicht bewusst, dass Sie so ein wendiges Breitband-Mietmaul sein können! Bei Ihrem Auftritt im Verlag DuMont Schauberg, über den Eindrucksvolles zu berichtet (Anm. der Redaktion: Überall bezieht sich auf den Blogbericht sozialgeschnatter) wird, scheinen Sie eine fulminante rhetorische Schlachtplatte arbeitnehmerfeindlicher Hasstiraden serviert zu haben. Ich gehe davon aus, dass die veröffentlichte Diktion und die Zitate korrekt sind, sonst wären Sie sicher längst dagegen vorgegangen. Und da Sie ja so gerne schön „austeilen“, bin ich davon überzeugt, dass Sie auch „einstecken“ können. Daher dieser Brief.

Ich beschäftige mich nicht nur als freier Journalist mit der Medienbranche, sondern auch als Hochschulprofessor und Mitglied im Bundesvorstand des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV). Ja, Herr Calmund, das ist eine Gewerkschaft, ich gehöre für Sie also in die Schublade der ganz, ganz Bösen. Wenngleich ich auch bei intensiver Suche bislang keine Briefmarke auf meinem Hinterteil entdecken konnte. Und den „Stecker“ hat bei mir auch noch niemand „gezogen“. Das liegt vielleicht daran, dass ich meine Gewerkschaftsarbeit wie etliche Tausend andere in dieser Republik ehrenamtlich mache und dafür nicht – wie von Ihnen als offenbar negativ beschrieben – „freigestellt“ bin. Oder es liegt daran, dass meine Auftraggeber bislang noch keinen Ihrer fulminanten Motivations-Vorträge hören durften.

Wie auch immer: Da gab es also Ihren rhetorisch gewichtigen Beitrag im Hause DuMont Schauberg. Sie gifteten gegen die, die „nur“ ihren Arbeitsvertrag erfüllen wollen. Ich erkläre Ihnen auf Wunsch gerne, warum wir Gewerkschaften stets für Arbeitnehmerrechte kämpfen. Wenn Sie das interessiert. Aber Fakt ist: Sie sollten nicht dazu aufrufen, Verträge in Frage zu stellen. Verträge werden geschlossen, um gehalten zu werden. Nicht um sie mit neoliberalen Ausbeuterparolen außer Kraft zu setzen. Gute Arbeit verdient gutes Geld. Gute Mehrarbeit verdient mehr Geld!

Vielleicht haben Sie bei ihrem Vortrags-Auftrag nicht so recht begriffen, wer Ihr Kunde ist, wer Ihre Zuhörer sind. Den  Versammlungsraum eines Medienhauses sollte man nicht verwechseln mit einer Spielerkabine. Denn bei den Medien verdienen die angeblichen Minderleister im Monat wahrscheinlich nicht so viel, wie Sie für einen solchen Vortrag vereinnahmen. Da klingt es schon ziemlich dekadent aus Ihrem Munde, dass man nicht nur seinen Arbeitsvertrag einhalten solle. In Medienhäusern winken für diejenigen, zu denen Sie gesprochen haben, keine Millionen-Belohnungen wie bei Ihrer früheren Fußball-Klientel. Das heißt, man muss diese Menschen auch anders motivieren. Nicht indem man ihre rechtlichen Ansprüche nonchalant in Frage stellt.

Sondern indem man sie wirklich motiviert. Indem man sie wertschätzt, aber auch ihre Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes honoriert. Nur „arbeiten, arbeiten, arbeiten“ hilft da nicht – motivationslos möglichst viel vor sich hin zu schaffen, kann doch wirklich nicht das Ziel derer sein, die Sie für Ihren Vortrag eingeladen und sicher nicht zu knapp bezahlt haben. Oder haben Sie das aus Einsatz für die Vielfalt der Medien in unserer Republik zum „Freundschaftspreis“ gemacht? Oder gar umsonst?

Über diese Frage haben Sie gar nicht nachgedacht? Naja, vielleicht haben Sie ja doch ein Herz und die Bereitschaft, mögliche Missverständnisse bei Ihrer Einschätzung der Medienszene auszuräumen. Als Gewerkschafter und Journalismus-Professor lade ich Sie herzlich zu einer Diskussion an die HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln-Zollstock ein.

Gemeinsam mit aktiven DJV`lern und mit Studierenden könnten wir dann über Ihre Äußerungen diskutieren. Honorar gäbe es freilich nicht. Aber wer weiß, vielleicht haben Sie ja trotzdem Lust?

Mit freundlichen Grüßen
Ihr Frank Überall
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Die Antwort von Reiner Calmund auf die Vorwürfe zu seiner Jubiläumsrede beim Express.

IN EIGENER SACHE
Stellungnahme von Reiner Calmund zu seiner Jubiläumsrede beim Express
Obwohl ich zur Zeit in Urlaub bin, möchte ich die aufgeregten Kritiker meiner Rede zum Express-Jubiläum beruhigen. Mit der Vorlage meines Manuskripts möchte ich Spekulationen über den Inhalt meines Vortrages beenden.

Zuerst eine Antwort auf einige böswillige Spekulationen: Für den Vortrag gab es kein Honorar, ebenso fielen keine Spesen oder Reisekosten an. Der Inhalt meines Vortrages war weder mit der Geschäftsführung noch mit der Chef-Redaktion des Verlages abgesprochen. Ich war auch nicht informiert über Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern. Es handelte sich ausschließlich um eine Ansprache zum 50-Jährigen Jubiläum des Express.

Die Rede beinhaltete in erster Linie einen Rückblick auf erfolgreiche 50 Jahre Express. Dann natürlich auch eine klare kurze Analyse der gegenwärtigen Situation, verbunden mit dem sich aus meiner Sicht ergebenen Anforderung an das Unternehmen für eine erfolgreiche journalistische und wirtschaftliche Zukunft.

Die gesamte Rede, ich wußte schon, dass es sich bei den Zuhörern um 98 % Mitarbeiter handelte und es keine Unternehmer-Versammlung war, dauerte knapp 25 Minuten. Es ist schon bemerkenswert, dass man ganz wenige – zugegebenermaßen durchaus hemdsärmelige Passagen, zu denen ich voll und ganz stehe  – aus dem Zusammenhang reißt und auch noch erklärt, es habe sich um eine Brandrede und Kampfansage gegen Arbeitnehmerrechte gehandelt. Aufgrund dieser Fakten möchte ich mit einigen Sätzen aus meinem Manuskript für Klarheit sorgen.

Damit kann jeder leicht verstehen, dass meine Forderungen sich sowohl an den Unternehmer als auch an die Arbeitnehmer-Vertreter richteten. Ich habe deutlich gemacht, dass weder überhöhte Gewinn-Absichten der einen Seite noch überzogene Forderungen der anderen Seite der Gesamtlage dienlich sein können. Es ging mir dabei allein darum, wie der Express für die kommenden 50 Jahre gut aufgestellt werden könnte. Vor allen Dingen ging es mir um die Sicherung von Arbeitsplätzen.

Hier ein paar Passagen:
Wie mir mein langjährigen TV-Partner Heinz Horrmann, der den Express mit aufbaute, stolz berichtet, „war in der Pionierzeit des Express Feierabend ein Fremdwort. Jeder schuftete freiwillig mehr, als er eigentlich musste!“

Ist das altmodisch? Oder heute wieder so modern wie früher?

Diese Frage muss sich jeder selbst beantworten.

Man kann doch nicht davon ausgehen, dass man ohne das gleiche Engagement
der erfolgreichen Anfangszeiten, den Express auf einem viel schwieriger gewordenen medialen Markt genauso erfolgreich weiterführen kann.

Gerade im Jubiläums-Jahr kann und muss man neu Durchstarten. Dabei heißt die Devise:  Feste arbeiten, arbeiten, dann kann man auch (F)feste feiern, ganz nach dem Motto: Nicht quatschen, sondern machen.

Ich jedenfalls kenne weder einen Arbeitnehmer noch einen Selbstständigen, der mit 35-40 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit erfolgreich ist. Kinder reicher Eltern sind davon natürlich ausgeschlossen.

Der Kampf um die Kunden ist härter geworden.
Der Umbruch auf dem Markt betrifft alle.
Die „Gesellschaft 2.0“ will heutzutage anders bedient werden.
Facebook, Twitter, Blogs etc. sind die Nachrichtenlieferanten von heute, das ist die Wiese auf der gespielt wird.
Wer diesen Umbruch nicht vollzieht, der hat heute schon verloren.

Ich will die Anforderungen, die an eine Zeitung gestellt werden,aus meiner Sicht kurz darlegen:
Die Auflage bricht ein, die Zahlen sind schlechter als früher.
Was tun? So weiter machen wie bisher? Geht nicht!
Also: Den Markt erforschen und sich anpassen.
Das ist nicht immer einfach. Denn es verlangt Veränderungen von jedem von uns.
Runter von gemütlichen Drehstuhl, raus zu den Terminen. Präsent sein.
Als EXPRESS für den Kunden!
Schnell und schneller sein als die Konkurrenz.

Die Kunden wollen geangelt werden – mit Top-Stories, mit Service.
50 Jahre – das bedeutet Tradition!
Aber: Tradition schießt keine Tore – und sichert dem Express keine Auflage.
Dutzende deutscher Traditionsunternehmen sind den Bach runtergegangen, weil die Chefs geglaubt haben, es geht immer so weiter wie früher.
Wer nur auf das „Früher“ baut, hat im „Morgen“ keine Chance – das ist ganz sicher!
Typen die morgens dafür und nachmittags dagegen sind, die mit einen schlecht gelaunten Gesicht Sand ins Getriebe streuen
und erklären:  Dass haben wir schon immer anders gemacht, denen musst Du die Briefmarke auf den Arsch kleben:
Stimmung ist das A. und O. für den Erfolg im Unternehmen.

Dass wir uns nicht falsch verstehen:
Erfahrung ist unerlässlich für jedes Unternehmen.
Alte erfahrene Haudegen sind genauso wichtig wie junge dynamische Mitarbeiter, die unbedingt ihre eigenen Wege gehen sollen
Die jungen sind schneller – die alten kennen dafür die Abkürzungen.
Wie gute Ausbildung und ständige Fortbildung bilden auch beide Mitarbeiter-Generationen jeweils eine der Säulen, auf denen sich jedes Unternehmen stützt. Ich komme aus ganz einfachen familiären Verhältnissen. Ich halte eine Arbeitnehmervertretung für wichtig, damit die Unternehmer nicht mit einer „Bonus- und-Gewinn–Gravur“ auf der Stirn herumlaufen.

Genauso wichtig ist jedoch, dass die Vertreter der Arbeitnehmer, die oft seit vielen Jahren von der Arbeit für die Gewerkschaft freigestellt sind, für das Unternehmen keine unzumutbaren Forderungen stellen und Erfolg und Existenz des Betriebes gefährden
und damit Arbeitsplätze vernichten.
Denen muss man dann den Stecker ziehen, sonst kann man irgendwann die Rollladen runter lassen und aus der Konservendose essen.

Ich bin überzeugt davon, dass der EXPRESS mit der Erfahrung der vergangenen 50 Jahre, der Kompetenz und dem Knowhow seiner Mitarbeiter und der Leidenschaft eines jeden von Euch auch die nächsten Jahre erfolgreich angehen kann.
Ich persönlich bin stolz, meinen kleinen Teil dazu beitragen zu dürfen.
Mir macht es Spaß. Und ich hoffe, ich kann die Liga bei Euch noch lange rund machen.

Zum Abschied noch ein afrikanisches Sprichwort. Es entstammt einem Naturvolk und passt dennoch auf die Situation wie die Faust aufs Auge:
„Jeden Morgen erwacht in Afrika eine Gazelle. Sie weiß, sie muss schneller rennen als der schnellste Löwe, oder sie wird gefressen.
Jeden Morgen erwacht in Afrika ein Löwe. Er weiß, er muss schneller rennen als die langsamste Gazelle, oder er wird verhungern.
Egal, ob Löwe oder Gazelle – oder als Mitarbeiter vom Express bei Tagesanbruch muss man rennen.“
Rennt auch Ihr!  Schnell, schneller – EXPRESS!
Das ist der Slogan vom Express
Es klingt simpel – aber es ist ein harter Kampf.
Um jede Story, jede Zeile, jeden Kunden. Und für jeden von Euch heißt das:
ES KOMMT NICHT DARAUF AN WAS DU KANNST! ES KOMMT DARAUF AN, WAS DU TUST!

Mit Respekt und Toleranz von beiden Seiten ist das leicht möglich.

Soviel aus meinem Manuskript der Rede. Nach dem Vortrag gab es von den Mitarbeitern und der Geschäftsführung Beifall und ausschließlich Zustimmung. Auch in den anschließenden Einzel-Gesprächen gab es keinerlei Kritik.

Daher verstärkt sich bei mir der Eindruck, dass mich einige hier bewusst missverstehen wollen. Wer mich kennt weiß, dass gute Mitarbeiter für mich immer die wichtigste Resource für den Erfolg eines Unternehmens sind. Und ich bin überzeugt, dass fast jeder, der bei mir gearbeitet hat bestätigen würde, dass ich über genügend emotionale Intelligenz und soziale Verantwortung verfüge. Ich habe natürlich hohe Anforderungen an meine Mitarbeiter gestellt, allerdings bin ich auch immer mit gutem Beispiel vorangegangen.

Reiner Calmund

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Autor: Andi Goral | Foto: S.Pick/PR
Foto: Pressefoto von Reiner Calmund