Nihilistische Satzreihen: Der Schriftsteller Thomas Bernhard
Thomas Bernhard (1931 – 1981) ist einer der wichtigsten Vertreter der österreichischen Literatur. Seine Texte bestehen in der Regel aus kunstvollen und unnatürlich langen Monologen mit meist zutiefst kulturpessimistischen Inhalten. Am Autor Bernhard scheiden sich nach wie vor die Geister: Durch ihren Hang zum Abgründigen und Grotesken können  seine Texte für die einen Leser zu hochgradig unterhaltsamen Hasstiraden werden, während andere wiederum überhaupt keinen Zugang zu ihnen finden. Zu Lebzeiten häufig als Provokateur und Nihilist abgestempelt, ist die Kritik an seinem Werk und seiner Person heute sachlicher und differenzierter geworden. Neben Gedichten, Kurzgeschichten und zahlreichen Romanen hat Bernhard auch einige Theaterstücke verfasst. „Vor dem Ruhestand“ aus dem Jahr 1979 beschäftigt sich mit dem Fortbestehen faschistischer Strukturen im familiären Bereich und hat dabei ausnahmsweise nicht das Heimatland des Autors sondern die BRD als Hintergrund.

Der Inhalt steht dabei ganz in der Tradition von Bernhards Texten: Der Gerichtspräsident und Abgeordnete Rudolf Höller ist ein ehemaliger SS-Offizier und war einst stellvertretender Kommandant eines Konzentrationslagers. Er steht kurz vor der Pensionierung und feiert wie jedes Jahr den Geburtstag Heinrich Himmlers zusammen mit seiner Schwester Vera, zu der er eine inzestuöse Beziehung hat, sowie seiner anderen Schwester Clara, die seit einem Bombenangriff der Aliierten im Rollstuhl sitzt. Dabei wird in diesem kleinen Kreis der Tag als Rollenspiel inszeniert: Vera tritt als devote Dienerin in Erscheinung und bügelt nicht nur den Talar des Richters, sondern auch seine alte SS-Uniform gewissenhaft. Clara dagegen bekommt als Rollstuhlfahrerin widerwillig die Opferrolle zugewiesen und muss die wirren Demütigungen des Hausherrn ertragen. Höllers Zustand schwankt dabei zwischen Erschöpfung und Raserei, die sich letztlich zu einem dramatischen Höhepunkt steigert.

Das in Stuttgart unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführte Stück trägt den zynischen Untertitel  "Eine Komödie von deutscher Seele". Die Grundvoraussetzungen für das Fortbestehen faschistischer Ideen ist hier innerhalb familiärer Strukturen dargestellt. Dabei ist das für Bernhard typische Monologisieren zwar deutlich auszumachen, allerdings nicht so experimentell und ausufernd geraten wie in anderen Werken des Autors. Häufig entwickeln sich banale Gespräche fast beiläufig zu anhaltenden Hasstiraden. Eine entscheidende Qualität des Stückes besteht darin, diese Abgründigkeit hinter der spießbürgerlichen Alltagssprache zu zeigen.

Hervorragende Schauspieler und ein bedrückend intensiver Theaterabend: Die Inszenierung von Volker Lippmann:
Durch seine Begrenzung auf drei Figuren und den übersichtliche Struktur eignet sich „Vor dem Ruhestand“ hervorragend für eine Inszenierung in kleineren Theaterräumen. In diesem Sinn kann die Inszenierung ein weitaus intensiveres Erlebnis bieten als das in größeren Theaterhäusern überhaupt möglich wäre. Mit ein paar altmodischen Möbeln, einem Teppich und einem Klavier in der Ecke wird auf der Bühne ein spießbürgerliches Wohnzimmer angedeutet. Großartige Bühneneffekte sind in einem solchen Rahmen kaum notwendig, um die stickige Atmosphäre des deutschen Nachkriegsspießers zu erzeugen.

Der Schwerpunkt von Lippmanns Inszenierung liegt dabei folgerichtig auf der Sprache und ihre Figuren. Die Leistung der Schauspieler an diesem Abend ist überdurchschnittlich: Bettina Muckenhaupt überzeugt als altjüngferliche Hausfrau, die dem Hausherren bedingungslos hörig ist und sich im Verlauf des Stückes in ein altes BDM-Mädchen mit Zöpfen verwandelt. Eleonora Vujin-Fischers eher wortkarge Präsenz auf der Bühne zeichnet sich durch ein paar pointierte Aussagen und Gesten aus. Zentraler Charakter aber ist Gerichtspräsident Höller. Volker Lippmanns Darstellung des unverbesserlichen Altnazis und Gegenwartsspießers ist von einer beängstigenden Intensität: Er bellt Naziparolen, schwenkt besoffen mit der alten Pistole in der Hand – immer zwischen Raserei und Zusammenbruch.

Gerade im kleinen Rahmen des Theater Tiefrot überzeugt Bernhards Stück, was an den hervorragenden Schauspielern liegt. Die Aufführung kann als Beispiel dafür gesehen werden, dass anspruchsvolles und vor allem engagiertes Theater abseits der großen und renommierten Bühnen existiert.

Premiere: 28.10. 2009
weitere Aufführungen: 18.11., 20.11., 21.11., 2.12., 4.12., 5.12.
 
„Vor dem Ruhestand. Eine Komödie von deutscher Seele“

von Thomas Bernhard
mit: Bettina Mückenhaupt, Eleonora Vujin-Fischer, Volker Lippmann
Regie & Bühne: Volker Lippmann
Kostüme: Dejan Radulovic
Licht & Technik: Lars Zastrow

Edgar Naporra für report-k.de / Kölns Internetzeitung
Foto: Alfred Koch