Die Zahl ist alarmierend. Dennoch wird Analphabetismus. gesellschaftlich tabuisiert – auch von den Betroffenen. Die Scham vor einem ‚outing’ und die Stigmatisierung als Dumm zu gelten, ist groß und die meisten leben in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Rika und Willy, die beim Vornamen genannt werden möchten, sind zwei Analphabeten, die keine Lust mehr auf ein Versteckspiel haben. In Köln-Ostheim besuchen sie im Rahmen des NRW-Projektes ‚Pages – Alphabetisierung und Grundbildung für Erwachsene im Sozialraum’ einen Alphabetisierungskurs der Volkshochschule Köln. „Unser Angebot ist bewusst niedrigschwellig. Wir versuchen die Menschen direkt in ihrem Viertel zu erreichen, damit die Hemmschwelle einen Kurs zu besuchen klein bleibt.“ erzählt Kursleiterin Gaby Bathe-Jablanovic. Schon eine längere Busfahrt kann ein Hindernis sein, weil sie die Tarife am Kartenautomaten nicht lesen können.

„Nur weil man nicht Schreiben und Lesen kann, ist man ja nicht doof“
Als Rika sich vor einem Jahr entschlossen hat, die Schulbank zu drücken, war die vierfache Mutter 51 Jahre alt. Auslöser sei ihr Enkel gewesen, dem sie endlich eine „Gute Nacht-Geschichte“ vorlesen können wollte – „ohne Ausrede“, erzählt sie. Und Willy (57), der seit zwei Jahren dabei ist, will „endlich unabhängig sein“ und „hofft so aus der staatlichen Unterstützung raus zukommen“, so der 57-Jährige. Beide sind sich einig, den Kurs auch als Chance zu begreifen. Zweimal wöchentlich treffen sie sich in einer kleinen offenen Gruppe, um das ABC zu pauken. Das Lerntempo bestimmen die Teilnehmer. „Wir bieten den pädagogischen Rahmen und fördern individuell nach dem Leistungsstand – ohne Druck. Denn einige sind schon seit zwei Jahren dabei, andere erst seit drei Monaten“, erklärt Bathe-Jablanovic das Konzept. Auch die Themen orientieren sich an den Interessen der Teilnehmer. Mode, Tagespolitik, Kultur, Kochrezepte alles ist dabei. „Nur weil man nicht Schreiben und Lesen kann, ist man ja nicht doof“, kritisiert Willy ein übliches Vorurteil.

Die erste eigene Zeitung zu lesen, macht stolz
Der Bezug zum Lebensalltag ist wichtig,  weil es das Verstehen der Texte vereinfacht. Leicht ist es trotzdem nicht. Nur langsam lernt Rika die Buchstaben und Silben aneinander zu reihen. „Bei längeren Wörtern wird’s schwierig. Das dauert schon einige Zeit um den Sinn zu verstehen“, erzählt sie und lacht. Nur das Q und X, das verwechselt sie häufig noch. Das frustriert sie manchmal, die Erfolgserlebnisse überwiegen jedoch. Die Erinnerung an den Tag, als sie ihre erste Zeitung kauften und lesen zu konnten, erfüllt beide immer noch mit Stolz. Heute trägt Rika selbstbewusst ihre Brille modisch ins Haar gesteckt. Sie braucht sie nicht mehr zu verstecken, um ihr Defizit zu verheimlichen. Der Entschluss in den Kurs zu gehen, ist ihr nicht schwer gefallen. Der Schritt, den Kurs zu besuchen, schon. Drei Mal ist sie um das Gebäude gelaufen, bis sie sich traute zu klingeln. Heute schwärmt sie von der lockeren Atmosphäre am ersten Schultag, wobei es ihr ganz wichtig war, zu erfahren, dass „ich nicht die einzige bin mit dem Problem“, so Rika.

Geschultes Personal in Arbeitsämtern könnte helfen
Heute ist das Jobcenter Thema im Kurs. Die Erfahrungen, dass Arbeitsamttermine auf die Unterrichtszeit gelegt werden, obwohl die Sachbearbeiter über den Kurs informiert sind, irritiert alle. Da wünschen sie sich mehr Sensibilität. So wie es auf Ämtern geschultes Personal für Migranten gibt, möchten auch sie nicht mit ihren Problemen ignoriert werden. Das gilt auch für die Jobangebote. Willy etwa hatte ein neues Angebot als Fahrer, da er einen Führerschein besitzt. Dass er die Straßennamen nicht lesen konnte, wurde mit ‚in den Autos gibt’s doch überall Navis’ von seinem Sachbearbeiter abgebügelt. „Dass Namen lesen und Formulare ausfüllen dazu gehört, hat er wohl vergessen“, sagt Willy mit ironischem Unterton und alle grinsen.

Nur wenige trauen sich zur Schule
Es ist schwer, die Betroffenen zu erreichen. Nur 20.000 bundesweit haben im vergangenen Jahr einen Alphabetisierungskurs besucht. Deutsche und Migranten zusammengerechnet. Für viele ist die Schule so negativ besetzt, dass sie eher den beschwerlichen Weg auf sich nehmen, durch gut funktionierende Vermeidungsstrategien ihr Defizit zu verbergen, als noch einmal durch die Tür eines Klassenzimmers zu gehen. Die Klassiker „ich hab gerade die Brille vergessen“ oder sich vorsorglich die Schreibhand zu bandagieren, helfen ebenso wie enge Vertraute dabei, durch den Alltag zu kommen. Denn Erinnerungshilfen oder etwa die Geburtstage der Geschwister können sie sich nicht machen. Willy etwa nutzt Notizen heute auch als ständige praktische Übung. „Das mag für Lesende eine Kleinigkeit sein, für mich ist das ein großer Erfolg“, sagt er. Lesen und Schreiben lernen macht unabhängig von fremder Hilfe und es „steigert ungemein das Selbstbewusstsein“, betont Willy.

Wichtig: Probleme müssen früh erkannt werden
Als die Pisa-Studie 2006 die schulischen Probleme öffentlich machte, erkannte auch die Regierung, dass Deutschland ein Grundbildungsproblem hat. Mit 30 Millionen Euro – verteilt auf fünf Jahre – fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Bekämpfung des Analphabetismus. Bis 2013 soll die Zahl der Betroffenen in Deutschland – so die Hoffnung – halbiert werden. Das hält Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung in Münster für schwierig, „zumal wir nur einen Bruchteil der Betroffenen erreichen“, sagt er. Wichtig wäre, so Hubertus, dass Lehrer und Eltern stärker zusammen arbeiten, um frühzeitig das Problem zu erkennen. Der „Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung“ bietet daher auch Multiplikatorenschulungen an. Etwa 75.000 Schüler haben 2009 die Schule ohne einen Abschluss verlassen und die meisten haben Probleme mit dem Lesen und Schreiben. „Das ist unsere Problemgruppe. Und die meisten scheitern am Lesen und Schreiben“ fügt Hubertus an. Ein Teufelskreis beginnt. Ohne Abschluss und Schlüsselqualifikationen haben sie kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Arbeitslosigkeit und Hartz IV drohen und damit die Armut.

Infobox: Kontakte für Analphabeten
Alfa-Telefon: 0251 – 53 33 44
Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Tel: 0251 – 49 09 96-0
VHS Köln: Frau Martina Morales: 0221 – 953 46
Portal Zweite Chance: ich-will-lernen.de

Brigitte Maser für report-k.de/ Kölns Internetzeitung
[Grafik: rknds/ www.pixelio.de]