Jochen Otte bei der Pressekonferenz am 16. Juni 2022. | Foto: Screenshot

Köln | Ein Jahr Schwarz-Grün in Nordrhein-Westfalen. Die SPD im Landtag und ihr neuer Chef, der Kölner Jochen Ott, legen die Bilanz aus Sicht der Opposition in ausgewählten Politikfeldern dar. In diesen übt die SPD-Fraktion im Landtag massive Kritik an der schwarz-grünen Landesregierung. Mit Karikaturen von Mirko Tomicek illustriert die Landtagsfraktion ein Booklet mit dem Titel: „1 Jahr Schwarz-Grün in Bildern – Das dürfte Hendrik Wüst nicht gefallen.“

Es gebe viele Baustellen in NRW nach einem Jahr Schwarz-Grün, die Regierungskoalition, die so euphorisch gestartet sei, stellt Ott fest. Aber jetzt mache sich Enttäuschung breit. Ott nimmt Kritik von Verbänden auf: Der VdK spreche über Schwarz-Grün als sozial farblos, der DGB fürchte eine schleichende Deindustrialisierung sowie BUND und NABU zeigten sich von den bisherigen schwarz-grünen Ansätzen in der sozial-ökologischen Politik enttäuscht. Als politische Probleme von Schwarz-Grün benennt Ott das chaotische Haushaltsverfahren, das Brückendesaster oder die Abipanne, die NRW im ganzen Land zum Gespött gemacht habe. Vor allem Ministerpräsident Wüst geht Ott mehrfach frontal an, während er bei den Grünen durchaus zahmer klingt. Wüst nennt Ott einen „Instapräsident statt Ministerpräsident“ und wirft ihm vor statt handfester Politik vor allem schöne Fotos zu produzieren. „Wofür steht Wüst?“, fragt Ott.

Soziale Frage als Kernkompetenz der SPD herausschälen

Die Kritik von Ott lässt deutlich seine Politschwerpunkte erkennen. Es ist die soziale Frage, die sozialen Themen die Ott von Schwarz-Grün politisch filetiert. Wüst stehe nicht an der Seite der Arbeitnehmer:innen oder Familien, so die Antwort Otts auf seine selbstgestellte Frage, wofür der Ministerpräsident stehe. NRW werde aus dem Schlafwagen heraus regiert, plakatiert Ott wortreich und nennt dafür folgende Fakten: Von den 55 Millionen Euro Corona-Hilfen, die jetzt Sportvereinen für die Bewältigung der Energiekrise zur Verfügung gestellt wurden, seien nur 612.000 Euro ausbezahlt. Auch bei den Unterstützungsprogrammen komme das Land nicht voran.

Bei Bauen und Wohnen legt Ott sprachlich an Tempo zu und stellt einen Vergleich an: 2016 war die SPD an der Macht und stellte mit Hannelore Kraft die Ministerpräsidentin. In diesem Jahr wurden in NRW 9.301 Wohnungen im mitpreisgebundenen Segment gebaut. Diese Zahl erreichte danach keine der CDU geführten Landesregierungen mehr, weder Schwarz-Gelb, noch Schwarz-Grün. Zuletzt waren es in 2022 nur noch 3.993 Wohnungen. Ott sieht ein, dass das Bauen schwierig geworden sei und auch teurer. Aber er fragt, ob es nicht gerade jetzt Aufgabe des Staates sei in der Krise antizyklisch zu handeln und den öffentlich geförderten Wohnungsbau nach vorne zu bringen? Beim Bauen kommt von Ott auch Kritik an den Grünen und deren Strategie in den urbanen Räumen keine Flächenressourcen zur Verfügung zu stellen und damit Menschen ins Umland der Städte zu zwingen. Hier müsse die Debatte geführt werden, ob es wirklich ökologischer ist, wenn diese Menschen, dann wieder in die Städte einpendeln.

Mona Neubaur: Mehr Beobachterin als Gestalterin

Die Wirtschaft in NRW schrumpft. Das wurmt die SPD im Landtag. In Mona Neubaur, Wirtschaftsministerin und Grüne sieht Ott eine Politikerin die staunend beobachtet statt aktiv Wirtschaftspolitik umzusetzen. Besonders ärgert sich Ott darüber, dass die 1.000 Meter Windkraftregel jetzt zwar gekippt wurde, aber nicht als die SPD dies schon früher mit einem Antrag im Landtag forderte. Dieser Zeitverzug sei „betreutes Regieren“. Die Feststellung der SPD: „NRW hinkt hinterher“. Und die Sozialdemokraten fassen Schwarz-Grün an ihrem Versprechen bis 2030 insgesamt 1.000 neue Windräder in NRW rotieren zu lassen. 2022 habe die Landesregierung gerade einmal 68 Anlagen geschafft. Um das Ziel zu erreichen müsste Schwarz-Grün aber dafür sorgen, dass 200 Anlagen gebaut werden – pro Jahr.

Schlechtere Flüchtlingspolitik als 2016

2016 regierte Rot-Grün das Land und das richtete damals 85.000 Plätze für Geflüchtete ein. Heute sind es 34.500. Das kreidet Ott der Landesregierung an und wirft dieser vor zu wenig zu tun. Die NRW-Kommunen fordern von der Landesregierung die Schaffung von 70.000 Plätzen. Im Gegensatz zur Ampel in Berlin, die die Kommunen in der Flüchtlingsfrage mit einer halben Milliarde unterstütze.

SPD spricht von Bildungskatastrophe

Jedes vierte Kind in NRW kann in der vierten Klassen nicht richtig lesen, so die IGLU-Studie. In NRW fehlen 200.000 Plätze im offenen Ganztag und 6.700 Lehrkräfte. Mehrmals im Monat fällt der Unterricht aus. Der Übergang von Kita zur Schule müsse mit dem Chancenjahr, ein Vorschlag der Sozialdemokraten, besser geregelt werden. Dies scheitere an Ressortgrenzen zwischen den einzelnen Ministerien in NRW, so die SPD-Schlussfolgerung. Alleine im Grundschulbereich könnten bis 2025 rund 26.300 Lehrkräfte fehlen. NRW gebe zu wenig Geld für Bildung aus, so die Sozialdemokraten. Nur 7.000 Euro investiert das Land pro Schüler:in in deren Bildung und liegt damit weit hinter anderen Bundesländern, wie etwa Bayern. Dazu kommen 100.000 fehlende Kita-Plätze. Und die Digitalisierung im Bildungssektor entpuppt sich mehr und mehr als Desaster. Nach der Abipanne gab es die nächste digitale Blamage: Die EDV-Führerscheine für Schüler:innen sollten ausgedruckt und dann analog ausgehändigt werden. Ott sprach von einem Jahr Stillstand im Schulministerium und bemängelte, dass die Grünen sich hier weitgehend aus der Bildungspolitik zurückgezogen hätten.

Aber nicht nur der Bildungsbereich werde politisch desaströs geführt, auch in der Pflege brenne es. Die Zahl insolventer Träger steige. 24.000 Pflegekräfte fehlten. Der Krankenhausplan von Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, CDU, sei nicht in trockenen Tüchern. Ott spricht von Realitätsverweigerung des Ministers.

Die Zahl der Kritikpunkte ist immens, dazu kommen Vorwürfe wie NRW sei Stauland Nummer 1, Probleme mit dem Grundwasser und der inneren Sicherheit. Dennoch will Ott die SPD auf die sozialen Themen und Fragestellungen fokussieren.

Ott will den starken Staat

Die SPD-Fraktion verspricht erneut Schwarz-Grün aufwecken und um die besten Ideen des Landes streiten zu wollen. Vor allem Ministerpräsident Wüst hat Ott im Visier, den er als Totalausfall, der in Berlin als Hoffnungsträger in Unionskreisen gefeiert werde, bezeichnet. Dabei gebe es dort etwas für Wüst zu tun und zu regeln. Damit meint Ott die Altschulden der Kommunen. Die Ampelregierung sei dazu bereit, aber die Union fehle als Mehrheitsbeschaffer zur Verfassungsänderung bei der parlamentarischen Abstimmung. Hier müsse Wüst Friedrich Merz aktivieren, schließlich sei der auch aus NRW. Dieser Altschuldenerlass sei für die Demokratie nach Otts Auffassung extremst wichtig. Zum einen, damit Kommunalpolitiker:innen wieder handlungsfähig werden. Zum anderen um Rechtspopulisten einzuhausen. Es brauche einen starken Staat der funktioniert. Wenn Wohnen oder Bildung für die Menschen vor Ort in den Kommunen nicht mehr funktioniere, dann, so Otts Analyse, seien diese anfällig für die Parolen der Populisten.

Und dann ließ Ott noch die Katze aus dem Sack: Auf dem Sommerfest der SPD-Fraktion heute in Düsseldorf gibt es zum ersten Mal auch Kölsch.